Das ländliche Thüringen, endliche Weiten. Ich war 1993 vierzehn Jahre alt. Die ehemalige DDR hatte bereits begonnen, aus dem Repertoire der westlichen Konsumgesellschaft die dürstenden Akkus der Massen- und Subkultur aufzuladen. Neben Sexshops, Möbel- und Autohäusern sprossen Videotheken, selbst in ländlichsten Gegenden, aus dem Boden. Zuerst familiär organisiert, in Garagen, Waschküchen und Fluren des Eigenheims. Klein und schmutzig, aber auch nahezu unbewacht durch FSK, BPjM und elterlicher Wachsamkeit. Alterskontrolle? Nein, danke! Hatte man sich doch gerade erst durch eine friedliche Übernahme die Freiheit erschließen lassen und die mannigfaltigen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung in Markt und Kultur entdeckt, wollte man diese auch nicht gleich wieder beschnitten wissen.
Der „Wilde Osten“ erlebte seine Pionierzeit zwischen Dildos, Möbelhäusern, schrottreifen Gebrauchtwagen und Videokassetten. Wir taumelten im jugendlichen Eifer zwischen Selbstdarstellung und gegenseitigem Überbieten: Beim Rauchen, beim Fussball, bei Mädchen und beim Härtegrad der Filme, die man schaute. Es wurde auf dem Schulhof geflüstert. Namen wie Fulci, Raimi oder Jackson fanden ihren Weg durch die vorgehaltene Hand. Verbotene Filme, schockierende Bilder, angsteinflößende Geschichten. Der Durst nach dem Spektakulären und Niegesehenen trieb uns an, immer wieder den Weg in das gelobte Land der Erwachsenenfilme zu finden.
Wir rasen mit dem Moped durch die Nacht. Auf in den Nachbarort, in die heilige Halle der Jungsunterhaltung. Der spannende Abend im Jugendclub hinter dem dörflichen Tanzboden immer vor Augen. Ohne Helm und Führerschein, aber mit großer Vorfreude auf das Betreten des Videoparadieses. Die Räumlichkeiten der Videothek sind schwanger von sechzig Längen Lord Extra am Tag. Von handbeschriebenen Plastikanhängern katalogisierte VHS-Hüllen bedecken alle holzvertäfelten Wände. Pokale ansässiger Vereine finalisieren das stilsichere Gewand eines Hobbykellers. Eine Theke mit gedrechselten Pfeilern und Barhockern. Eiche rustikal und ostalgische RFT-Anlage: Gelsenkirchener Barock meets Puhdys.
„N’abend Jungs“, die Königin der Filmgrotte begrüßt uns mit einem wissenden Lächeln darum, daß auch stets ein Abstecher hinter den dichten Vorhang der Pornokammer geplant ist: Aufklärung durch Neuaufgeklärte. Doch vorher kurieren wir das Hauptprogramm passend zu Pizza, Cola und Zigaretten:
„Cyborg“? „Tanz der Teufel“? „Friedhof der Kuscheltiere?“ Man kann sich nur schwer einigen, gibt vor vieles schon gesehen zu haben und hat auch nicht das Geld, sich die hohe Leihgebühr jede Woche leisten zu können. Konsens ist jedoch meistens das kleine, rote Quadrat auf der Rückseite der VHS-Hülle. Ab achtzehn! Besser noch indiziert oder verboten! Ungeschnitten bitte! Die Garantieformel für einen gelungenen Abend. Das zusammengelegte Geld reicht für drei Filme. Es werden Cover gedreht, Fachkundiges ausgetauscht: „Chuck Norris ist besser als Van Damme!“ „Stallone ist zu alt und nach Rambo 3 kam nix mehr von dem!“ „Michael Dudikoff vielleicht? Immerhin sind hier auch Ninjas am Start!“. Ich hatte während dieser Diskurse immer große Schwierigkeiten, meine Vorliebe für Zombies und Monster gegen diese Schwadron von schlagkräftigen Kampfsportlern und treffsicheren Einzelkämpfern zu behaupten. Waren meine Videobrüder doch ein paar Jahre älter als ich, zählte meine Stimme nicht viel und ich war dankbar für jeden Lucky Punch. Wir leihen zum wiederholten Mal „Bloodsport“, da sich die „Schienbeinszene“ so großer Beliebtheit erfreut und der Chuck-Norris-Fan allein mit seiner Meinung steht. Stallone bekommt mit „Tango & Cash“ doch noch eine letzte Chance und ich kann „Metamorphosis: The Alien Factor“ gegen Teresa Orlowski durchsetzen. Puh, alle sind glücklich. Karteikarte ausfüllen, Rucksack auf, Kickstarter und los.
Die Pizza kommt wie immer zu spät in den Jugendclub und ist kalt nach ihrem Neunkilometertrip durch die Provinz. „Stallone, Bloodsport und dann Langguths Film!“ Die Titel der von mir gewählten Filme wurden stets vergessen, oder gar ins Lächerliche gezogen, die Abspielreihenfolge ohne mich bestimmt. Egal, Pizzakarton auf und Film ab! Ich schlief noch vor Chong Lis fatalen Unterschenkeltritt ein und bekam später einen Rüffel da „Metamorphosis“ durch die Videothekarin mit „Das fliegende Auge“ verwechselt wurde. Den von allen vergessenen Alien-Mutations-Shocker habe ich bis heute nicht gesehen, genauso wenig wie nur einen Chuck-Norris-Film. Im Filmtempel von damals trifft man sich nun zum Feierabendbier ganz ohne Videoglanz aber mit gleicher Selbstverständlichkeit: „Hauptsache Theke!“