Berlinale 2023 – Day One

Der monströse Festival-Circus öffnet vom 16. bis 26. Februar wieder seine Manege im schnöden Berlin. Darum wirft Randfilm in den nächsten Tagen ungenierte Blicke auf das Genregeschehen, auf die mehr oder weniger radikalen Dramen und einige seltsame Film-Hybriden.

Tag 1 hatte es schon mehr als in sich, denn die Bandbreite erstreckte sich von einer Dokumentation über den Luftkrieg im WW2, einer Teenage-Angst-Dramödie, einem too edgy french movie, einem vietnamesischen Revenge-Thriller, einer argentinischen Reflexion über den Dreh eines verfluchten Films bis zu einem kontemplativen „Beau-Travail-Klon“ in Schwarz-Weiß.

„The Natural History of Destruction“ oder einfach „Luftkrieg“ versucht, von der gewaltigen Zerstörung der Städte und des Lebens durch Luftstreitkräfte und Bomberpiloten zu erzählen.
Der Dokumentarfilm vermeidet jede Form von Off-Kommentaren, fängt sich allerdings manchmal den Vorwurf von einfachem Revanchismus ein. „Luftkrieg“ ist eine europäische Gemeinschaftsproduktion mit besonderer Unterstützung des MDR.
Der Film arbeitet mit plumpen Propaganda-Aufnahmen, aber auch mit einzigartigen Archivmaterial, inkl. unzähliger Luftaufnahmen aus Zeppelinen, Bombern oder anderen Flugobjekten. Das alles wirkt gut gemeint, hat in seinen abstrakten Momenten eine ganz eigene Kraft, verliert sich aber in der Laufzeit in Wiederholungen.

„Melody-Go-Round“ (Taiwan 2022) balanciert nahezu geschickt zwischen Familiendrama, Campness, Teenage-Angst und magischem Realismus. Der Film wirkt zunächst ambitioniert, möchte „echte“ Personen zeigen und diese ernstnehmen. Aber er bekomt die wichtigen Themen Ablösung, Neuanfang, kapitalistische Warenwelt und Lebenskrise nur bedingt in den 102 Minuten unter. Letztendlich mündet er in eine Happy-Families-Idylle.

Da ist der französische Beitrag „Orso“ schon ein anderes Kaliber: Louison leidet unter heftigen bipolaren Attacken und verschlingt förmlich ihr Leben. Leider ist der gute Orso unsterblich in sie verliebt, obwohl er ahnt, dass das alles böse enden wird. Regisseur Bruno Mercier fährt hier förmlich alles auf, was zu einem sogenannten „edgy Drama gehört: düstere, karge Landschaften und Räume, ständig nackte Körper auf schmuddeligen Laken, Sex & Gewalt satt sowie spärliche Dialoge. Er kann aber nie verhindern, dass sich das alles sehr plakativ, simpel und wahnsinnig langweilig anfühlt. Die Chance wurde mehr als vertan, würde Randfilm sagen.

Einfach gestrickte, aber knackige Action verspricht hingegen der Trailer zu „578 Magnum“ (Vietnam 2022). Hier wird alles an (Action)-Klischees versammelt, was dem Krawallkino schon seit Jahrzehnten gut und teuer erscheint: heldenhafte Maskulinität, hohes (Erzähl)-Tempo, Martial-Arts in Vollendung, rotzige Bikerhorden, blutgierige Bösewichte, im Anzug verkleidete Sadisten und Girls, die beschützt werden wollen. Dazu kommt viel Regen, ständig wechselnde Schauplätze und eine an John Woo und Sam Peckinpah erinnernde Zeitlupen-Ästhetik.
Vom Film bleibt letztendlich aber nicht viel mehr als reine Stereotypen und Actionszenen vom Ramschtisch übrig. Nichts wirkt dramaturgisch gut inszeniert, Szenen werden einfach abgebrochen und die Montagen sind mehr als schluderig.

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https://youtu.be/8k0Hq8IEWbk

Trailer zu 578 Magnum

Auch als Zwischenkost enttäuscht der französische Film „Before We Collapse“ und macht auch nicht Lust auf mehr. Die Generation der Thirty Somethings mäandert zwischen Selbstfindung, nicht abgeschlossener Vergangenheit und schlichten Revolutionsideen durch 100 Minuten Film und hat wirklich nichts zu sagen.

„Luka“ wird als „visuell fesselndes, erzählerisch dichtes Drama kafkaesquen Ausmaßes“ (Screen Daily) angepriesen. Leider überzeugt auch dieser Ansatz eines surrealen und dystopischen Dramas über die Grenzen der Zivilisation nicht. Manieriert, statisch und theaterbühnenhaft bewegen sich wunderbare Darsteller wie Geradine Chaplin und Sam Louwyck durch ein schwarz-weißes Wüsten-Fort-Setting und rezitieren ihre Texte.
Mehr als eine leblose, blutleere und symbolische Reflexion über die Sinnlosigkeit von Konflikten, Autoritäten und der militärischen Absurdität bleibt leider nicht übrig.

Das Highlight des Tages war dann doch „Matadero“. Allerdings reichte es auch hier nur zu einer „Ist einen Blick wert“-Wertung. Mit der Story um einen verfluchten Film-Dreh, der in einer Rückblende erzählt wird, war der Boden für ein aufregendes Filmerlebnis bestens bestellt gewesen. Auch der historische Schauplatz Argentinien in den Jahren der Post-Peron-Diktatur schien perfekt gewählt. Das Debüt von Santiago Fillol schafft es in den ersten 30 Minuten wirklich zu glänzen. Hypnotische Bilder kombiniert mit einem wundervollen Soundtrack untermalen die mehr als rätselhafte Atmosphäre um die Geschichte des verschollenen Films. Die Erwartungen an eine radikale Auflösung, die das Unsehbare auf eine ganz spezielle Art und Weise sichtbar machen wird, sind groß. Aber der Film verliert immer mehr seine aufregenden Bilder, seine mysteriöse, schwer zu greifende Atmosphäre und wird zu einem einfach gestrickten Arthouse-Film, der sich einen Dreck um die Möglichkeiten seiner Ausgangssituation schert.
Am Ende sitzen wir ratlos vor der Leinwand und beschwören schnell mal die Geister von Claire Denis, David Lynch und Alejandro Jodorowsky.

Volker Beller für Randfilm