oder: Von der Qual der Wahl. Ein sentimentaler Rückblick.
Videotheken – Tempel der Kultur im Zenit der zweiten Jahrhunderthälfte. Unerschöpflicher Dschungel der Leidenschaften, der Lust, der unerreichbaren Sehnsüchte. Tränke für durstende Augen – Iris und Hirn lechzen nach Sensationen – fernen Orten – großen Geheimnissen. Neidvoll blicken Seraphim, Jupiter und Orpheus herab auf diese Gärten mit all ihren prallen Früchten, zu deren Ernte keine andre Arbeit zu tun ist als einen Plastikhänger vom Haken zu nehmen und ihn bei dem freundlichen Herrn mit der Stirnglatze und dem Vollbart an der Theke abzugeben. Und dieser Herr im Hawaiihemd, der jetzt eine scheppernde VHS-Kassette aus dem Lager holt und in eine imitierte Buchhülle legt – ja, er ist es! – Schumacher persönlich! Herrscher über Schumachers Videoparadies in Aulendorf, im Herzen Oberschwabens. Dieses Paradies verbirgt sich hinter einer höchst unparadiesischen Tür aus blind gewordenem Glas, die von beiden Seiten mit Filmplakaten beklebt ist. Drin müffelt es nach Eau de Vidéothèque – eine Mischung aus angetrocknetem Sperma und kaltem Rauch, die nicht auszurotten ist. Auch nicht von dem Duftbaum über der Theke. Schumacher selbst ähnelt stark Captain Spaulding aus „Das Haus der 1000 Leichen“. Das weiß hier aber keiner, denn dieser Film wird erst in sieben Jahren auf Video rauskommen – wir schreiben jetzt das Jahr 1997, und der Verleihhit in diesem Herbst ist der neue Schwarzenegger – „Där Eraaaaser“, wie Schumacher sagt, wobei er die letzten Silben ausspricht wie bei „Autobahnraser“. „Där Eraaaaser“ also „isch ein gnallharder Aktschn-Driller“, den man unbedingt gesehen haben muß. Leider ist er schon verliehen, aber Schumacher macht nicht viel Federlesens, sucht die Nummer des Kunden heraus und greift in Windeseile zum Hörer, um, was die Abgabe des überfälligen Tapes angeht, einen sogenannten „wäg ab kohl“ zu machen. Im Hörer tutet es schon, jemand nimmt ab. Schumacher, laut: „Grießgott – dr Eraaaaser! Wann kommt der zruck?“ Der Kunde am anderen Ende, offensichtlich schwer eingeschüchtert, verspricht, alles zu tun, was man von ihm verlangt. Was mag er wohl denken, wer ihn da angeruft? Aber Schumacher ist noch nicht fertig: „Ond dr Zertliche Libba – dr kommt au zruck!“ Damit legt er auf. „Dr Zertliche Libba“, sagt er, „isch ein hammermäßiger Spitzapornno“. „Erschte Sahne!“, sozusagen, was in der unverstellten Zweideutigkeit von Schumacher ein zwar appetitverderbendes, aber möglicherweise doch treffendes Kompliment ist.
Schumachers Sortiment ist klein. Trotzdem findet er für jeden das Richtige und legt überaus großen Wert darauf, sich in dieser Kunst zu beweisen. Wenn sein Schwäbischer Dialekt es einem auch oft schwer macht, herauszufinden, von welchem Film er gerade spricht. Für Science-Fiction-Fans ist sicher „„Schtarworsch“ interessant, zumal „D`Rikkehr dr jeddiridder“ gerade neu erschienen ist. Auch „Vollmedalltschicket“ ist sehenswert, wenn auch ein Kriegsfilm „vom Schtennnlei Kubritsch“, der auch „Dr Schenning“ gedreht hat – „dr uldimadive Horror-Dripp!“ Frauen sehen jedoch meistens lieber „Dirty Dannzing“ oder „Britti Woman“, deren Titel auch sehr viel leichter auszusprechen sind.
Als Videothekar mit Leib und Seele macht er mit Rat und Tat keineswegs vor der Abteilung mit dem roten Samtvorhang halt. Nein, Schumacher kennt sich auch mit Pornofilmen nicht nur aus – das ist sogar seine Spezialität. Wer hier eintritt, muß sich die Frage gefallen lassen, ob er es lieber mit oder ohne Handlung mag – und wenn mit – soll diese dann leicht sein oder kompliziert, kriminalistisch angehaucht oder eher mondän-amourös? Welches sind die Vorzüge von „Exzesse uff dr Schenheitsfarm“ gegenüber „Diamend Bäbi“ und warum sind die Franzosen überhaupt die besseren Filmemacher. Was auf den großen Filmfestivals dieser Welt nie geklärt werden konnte, kommt hier zur Sprache.
Nun gut. Es gibt Menschen, die suchen ihren Film lieber selber aus. Wollen ungestört sein. Mögen Ruhe und Abgeschiedenheit. Diese Menschen lassen Aulendorf links liegen, fahren mit dem Auto ein paar Kilometer weiter südlich, ins kleine Städtchen Riedlingen.
Dort gibt es eine Videothek, die in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Schumachers Videoparadies ist. Kein Schaufenster, kein Schild, keine Beratung. Von Außen sieht man nur ein unscheinbares Fachwerkhaus, auf dessen Haustür ein „Inferno“-Poster klebt. Wer hier eintritt, läßt alle Hoffnung fahren. Das Angebot ist so groß, daß es sämtliche Stockwerke einnimmt. Vom Keller bis zum Dach. Jeder Film der es jemals auf ein Magnetband geschafft hat, befindet sich hier. Die Topografie dieser Verleihstätte erinnert nicht von Ungefähr an die Beschreibung der Unterwelt bei Dante – so viele Ebenen und Höllenkreise gibt es hier zu durchschreiten, und schmerzliche Qualen erleidet man ob der Gewissheit, niemlas all diese Schätze in einem einzigen Menschenleben ausleihen zu können.
Sortiert sind die Filme nicht nach Genre oder gar alphabetisch, sondern nach Kriterien wie „Ein-Wort-Titel“ oder „Zwei-Wort-Titel“. Filme mit „Der, Die oder Das“ am Anfang oder welche, die, wie „Harry und Sally“, „Benny und June“, „Asterix und Obelix“, etc., aus bloßen Eigennamen bestehen. Aber wo findet man jetzt „RoboCop“? Richtig: bei den Filmen mit dem Begriff „Cop“ im Titel – denn auch diese haben eine eigene Rubrik. „Beverly Hills Cop“ allerdings steht bei den Eddie-Murphy-Filmen. „2001“ steht bei Filmen mit Zahl im Titel – ebenso wie „2000 Maniacs“, „20000 Meilen unter dem Meer“, „Jahr 2022 – die überleben wollen“ – aber auch „Rocky 3“, obwohl Stallone eigentlich seine eigene Rubrik hat.
Es ist eben kein Ort des Findens, sondern des Suchens. Nicht der stumpfe Verleih ist das Ziel, sondern der Weg dorthin, über die ganzen Etagen hinweg, durch die Zimmer, die Regale – und wer endlich zum Ausgang zurückfindet, wenn überhaupt, hat eine unvergessliche Video-Cover-Safari hinter sich, die ihn noch viele schlaflose Nächte lang beschäftigen wird. Ein Eldorado für Videofilmfanatiker. Oder vielleicht einfach der Ort, wo die Kassetten zum Sterben hinkommen.
Der einzige Mensch an diesem Ort ohne Namen ist ein anonymer Dicker in einem winzigen Kabuff hinter einem raumfüllenden Schreibtisch, umgeben von undurchdringlichem Zigarrenqualm. Man sieht bloß seine Umrisse, wie in einem John-Carpenter-Film. Fragen sind hier unerwünscht. Er kann einem sowieso nicht helfen – es gibt keinen Computer, keine elektronische Bestandserfassung, keinen Printkatalog. Und der Mann ist zudem äußerst wortkarg. Komischerweise hat er stets, ohne aufzustehen, die richtigen Kassetten griffbereit, als hätte er Gestern schon gewußt, was man sich heute ausleihen würde. Unheimlich, besser, man denkt nicht zu viel darüber nach, denn – ja, er ist so eine Art Geist. Ein paar Jahre noch, dann wird ihn der Zigarrenrauch endgültig verschlucken, und mit ihm wird die ganze Videothek verschwinden und sein ganzes schönes großes Sortiment weggespült von DVD, Bluray, Online-Streaming. Übrig bleibt dann ein Haus mit „Zu Verkaufen“-Schild im Fenster, das die allmählich verödende Innenstadt von Riedlingen um einen weiteren Leerstand bereichern und jahrelang nutzlos vor sich hin gammeln wird, ehe ihm ein Investor die mögliche Wiedergeburt als hippe Kaffeefiliale schenkt, wer weiß.
In Aulendorf hingegen, in Schumachers Videoparadies geht es inzwischen auf den Feierabend zu. In der Pornoecke verlöschen die Lichter. Die Kunden werden nach und nach hinauskomplimentiert. Aber auch das: schwäbisch, freundlich, voller Wärme. „Guats Nächtle, verzehlet se mir au, wias war!“ ruft er einer Frau hinterher, die einen ganzen Stapel Kassetten geliehen hat. Bis auf einen bleichen Milchbubi beim Neuheitenregal ist der Laden leer. Schumacher räuspert sich, während der Kerl unschlüssig die Hüllen wiegt. Der Abend ist kurz und ohnehin ist das Aussuchen ja das Schönste am Filmekucken. „Hend se was gfunda?“ ruft Schumacher, mit den Schlüsseln klirrend. Der Moment der Entscheidung ist da, er läßt sich nicht länger aufschieben. „Ach, wissen sie was? Ich nehm einfach beide.“ Schumacher entblößt seine Zahnlücken zu einem herzerwärmenden Lächeln und zwinkert mir zu: „Des isch eine gute Wahl!“
Abbildung aus: „Videodrome“ von David Cronenberg
Quelle: http://www.businessinsider.com/videodrome-the-1983-david-cronenberg-movie-2013-6?op=1&IR=T